Straßensperren und Granatäpfel

Im Sommer 2008 dachte ich oft an einen israelischen Studenten, den ich 1969 in Regensburg kennen gelernt hatte. Er studierte Medizin und hatte ein Stipendium für Deutschland erhalten. Er stammte aus einer deutschen Familie und wir umschifften ein ums andere Mal ein Gespräch darüber, wie seine Familie nach Israel gekommen war. In der Erinnerung sind die meisten Sommer schön, vor allem die Sommer der Kindheit und Jugend. Dieser muss besonders schön gewesen sein. Wir spielten viel Tennis zusammen, bis er mir eines Tages mitteilte, er sei einberufen worden. Es war für ihn selbstverständlich, Studium und Stipendium aufzugeben, um auf den Golanhöhen Dienst zu tun. Ich kann mich noch an eine lange Nacht erinnern, in der es um Kriegsdienstverweigerung ging. Wir schlugen uns damals damit herum. Ihm war diese Diskussion völlig fremd. Ich fragte ihn, ob der Stellungsbefehl auch seinen Tod bedeuten könnte und er sagte ja. Pahl-Rugenstein Verlag ISBN 978-3-89144-435-1 www.pahl-rugenstein.de

Textauszug:

Gefangen im Drehkreuz

Wenn man sich vorstellt, es gäbe nicht nur an den Grenzen zu Deutschland sondern am Ende jeder Ausfahrtstrasse einer Ortschaft eine Sperre, an der man seinen Pass vorzeigen müsste und deutsche Staatsbürger würden im eigenen Land von fremden Soldaten jeden Tag in bellendem Ton aufgefordert, sich anzustellen, dann bekommt man in etwa eine Vorstellung davon, wie schwierig das Reisen in Palästina ist.

Am Donnerstagnachmittag passieren die palästinensischen Studenten und Studentinnen der An Najah Universität in Nablus, die im Norden des Westjordanlandes wohnen und nach Hause wollen, den Checkpoint Beit Iba, der sich direkt am Stadtrand befindet. Alle müssen die Busse oder Taxis verlassen. Für die jungen Männer unter fünfunddreißig gibt es zwei Schlangen mit Drehkreuzen, in denen sie solange gefangen sind, bis man ihre Taschen durchsucht hat. Sie müssen zusätzlich die Schuhe ausziehen, die Gürtel und Mobiltelefone abgeben und einen Metalldetektor passieren, der von den Studenten ‚chicken machine’ genannt wird, weil man sich darin fühlt wie ein Huhn, das gerupft wird. Die Frauen und Männer über fünfunddreißig dürfen in einen Gang ohne Drehkreuz, der die Bezeichnung ‚Humanitarian Lane’ trägt. Daneben gibt es noch zwei Spuren für hupende Busse, Lastwagen, Taxis, Esel und Handkarren.

Normalerweise kommt das Team der internationalen Beobachter aus Tulkarem an zwei Tagen der Woche nach Beit Iba. Am Sonntagmorgen, wenn die Studenten und Studentinnen zurück nach Nablus fahren und am Donnerstagnachmittag. Um zwei Uhr warten am Übergang bereits mehrere hundert Menschen, entweder in der glühenden Sonne – an diesem Tag hat es etwa 38 Grad – oder unter einem stickigen Wellblechdach. Die Soldaten und Soldatinnen in Kampfanzug, Panzerwesten, Stahlhelmen, mit schussbereiten US-amerikanischen M 16 Schnellfeuergewehren sind in demselben Alter wie die Studentinnen und Studenten. Die Stimmung ist aufgeheizt. Wer versucht, sich auf den Sichtbetonabsperrungen niederzulassen, weil er müde ist, wird von den Soldaten rüde aufgefordert in die Schlange zurückzugehen. Es gibt immer wieder Rufe von beiden Seiten.

Einige junge Frauen versuchen durch den Übergang zu kommen, ohne ihre Pässe zu zeigen, denn der Soldat, der sie kontrollieren soll, hat seinen Platz seit einiger Zeit verlassen. Sie werden von einem Moment auf den anderen zurückgedrängt, als hätten die Besatzer nur auf einen solchen Augenblick gewartet. Plötzlich bricht Chaos aus. Brüllende Soldaten, vor allem aber Soldatinnen, Lautsprecher, Sirenen, Gewehrmündungen und eine Menge, die nur bereit ist Zentimeter um Zentimeter zurück zu weichen, weil sie schon zu lange in der Hitze wartet.

Einer der Soldaten rollt auf dem Zementboden eine Soundbombe in die Menge, die direkt neben dem Team explodiert. Soundbomben sind eine zweifelhafte Erfindung der Neuzeit. Sie imitieren einen Schuss und sind die Vorstufe zu Tränengas, gummiummantelten Stahlkugeln und scharfer Munition. Ein Mann wird ohnmächtig, andere fallen über den am Boden Liegenden. Die beiden Jungen, die im Drehkreuz gefangen sind, versuchen verzweifelt sich herauszuwinden. Die Palästinenser vermuten, es sei tatsächlich geschossen worden, und fliehen Hals über Kopf.

Es dauert etwa eine Stunde, bis sich alles etwas beruhigt hat. In der Zwischenzeit ist der Übergang, der von den israelischen Frauen von Machsom Watch ‚Sperre’, nicht Checkpoint genannt wird, geschlossen und die Wartenden dürfen nicht einmal mehr unter das Vordach. Wir fragen einen der Soldaten, der die Hose seines Kampfanzugs wie ein Hipp Hopper an den Knien hängen hat, nach dem Grund des Zwischenfalls. Er sagt, es hätte Bombenalarm gegeben. Auf den Einwand, sie selbst hätten die Bombe geworfen, zuckt er mit den Schultern und geht.

Als unser Puls wieder ruhiger schlägt, können wir feststellen, dass die Palästinenser gut organisiert sind. Busse werden offensichtlich sofort über Mobiltelefone informiert und weit vor der Sperre gestoppt, um die Aggressionen zu dämpfen. Die israelische Seite betont immer wieder, die Checkpoints mitten in der Westbank dienten der Sicherheit. Aber jeder, der zum Beispiel von Nablus nach Tulkarem möchte und kein Permit hat, kann natürlich zu Fuß über die Felder gehen und damit der Kontrolle ausweichen. Wird er dabei erwischt, muss er allerdings mit Gefängnis rechnen.

Nach unserer Rückkehr führen wir ein Gespräch mit einem Verantwortlichen für Menschenrechte in Tulkarem. Er sagt, es werde noch schlimmer werden, denn in vier Tagen beginne der Fastenmonat Ramadan, an dem alle Muslime unter Tags nichts essen und vor allem nichts trinken dürfen. Die Soldaten versuchen dann zusätzlich weitere Straßensperren, so genannte ‚flying checkpoints’, zu errichten, um die Menschen solange wie möglich in der Hitze aufzuhalten.

Wir haben beschlossen wiederzukommen, zu beobachten, Berichte zu schreiben, sie an die uns zugänglichen Stellen weiterzuleiten, den Soldaten Fragen zu stellen und mit den Studenten zu reden. Bei Bedarf werden wir die ‚Humanitarian Hotline’ anrufen, die von der Besatzungsmacht eingerichtet wurde, um die zahllosen Beschwerden zu bearbeiten.

Mehr kann man hier nicht tun.